Personalisierte Medizin: Jeder Mensch ist individuell, ebenso wie sein Krankheitsverlauf
Wer würde sich beim Kauf einer Hose wahllos für ein Exemplar entscheiden, ohne dieses zuvor anprobiert zu haben? Ausgerechnet wenn es um unsere sensible Gesundheit geht, verhalten wir uns aber eben so. Wir gehen davon aus, dass eine Rezeptur bei jedem individuellen Krankheitsverlauf gleich wirksam ist. Dabei ist ein passgenauer Zuschnitt auf die physiologischen Zusammenhänge eines Patienten mindestens genauso wichtig wie ein gut sitzendes Kleidungsstück. Mit personalisierter Medizin könnten wir zukünftig der Individualität des Menschen gerecht werden und Krankheiten effektiver behandeln.
Unsere Gesellschaft wird individueller – Warum nicht auch bei der Medikation?
Aus meiner Sicht als Apotheker bemerke ich eine zunehmende Diskrepanz zwischen der immer stärkeren Individualisierung der Gesellschaft und der unpersönlichen Medikation bei Krankheiten. Sozialwissenschaftler sehen den sozialen Aufstieg und die vielen Lebensstildiversifizierungen der letzten Jahrzehnte als Grund für eine Gesellschaft voller ausgeprägter Individuen. Diese können und sollen zwischen immer mehr Optionen wählen und stellen sich Fragen wie:
- „Wohin soll ich reisen?”
- „Möchte ich in einem fernen Land leben?“
- „Werde ich jemals heiraten?“
Warum fragen wir uns aber nicht: „Ist das Medikament, das bei einem wildfremden Patienten wirkt, auch bei mir erfolgversprechend?“
Unterscheidungen in Genetik und Lebensstil prägen unsere Gesundheit
Eben hier setzt das Konzept der personalisierten Medizin an. Es wird berücksichtigt, dass Patienten, die unter identischen Symptomen leiden, womöglich aus unterschiedlichen molekularen und genetischen Ursachen erkrankt sind. Minimale genetische Unterscheidungen grenzen nicht nur die Menschen voneinander ab, sondern entscheiden auch über Krankheit und Gesundheit der einzelnen Individuen.
[bctt tweet=“IDENTISCHE #SYMPTOME BRAUCHEN NICHT IMMER AUTOMATISCH EINE IDENTISCHE #BEHANDLUNG.“ username=“steffen_kuhnert“]
Darüber hinaus sind die individuellen Lebensgewohnheiten besonders ausschlaggebend dafür, wie Krankheiten verlaufen. In der Zwillingsforschung hat man herausgefunden, dass selbst Zwillinge, die in der Hälfte ihrer DNA übereinstimmen und unterschiedliche Lebensstile pflegen, bei Erkrankung an ein und derselben Krankheit einen komplett unterschiedlichen Krankheitsverlauf durchleben. Je länger die Zwillingspaare getrennt voneinander gelebt hatten, desto unterschiedlicher waren auch die Krankheitsverläufe und ihre Reaktionen auf eine identische Therapie.
Verfeinerte Diagnostik wägt die individuelle Eignung des Patienten ab
Unser Lebensstil und die genetische Disposition entscheiden also schlussendlich darüber, ob wir erkranken und wie der Therapieerfolg des einzelnen verläuft. Der individuelle Stoffwechsel eines Menschen entscheidet beispielsweise darüber, wie lange ein Medikament im Blutkreislauf verweilt und wie es seine Wirkung entfalten kann. Bei Menschen mit sehr schnellem Stoffwechsel – in der Fachsprache Metabolismus genannt – bleibt bei durchschnittlicher Dosierung oft die gewünschte Wirkung aus. Ein langsamer Metabolismus birgt hingegen das Risiko einer zu hohen Medikamentkonzentration im Blut und erzeugt unerwünschte Nebenwirkungen.
Bei der oralen Einnahme eines Medikaments kann ein beträchtlicher Anteil des Wirkstoffs außerdem in Leber und Darm metabolisiert werden. Der Anteil des Medikaments, der den Kreislauf überhaupt erreicht, wird in diesem Fall verringert. Ärzte sprechen von einem sogenannten First-Pass-Metabolismus.
[bctt tweet=“DIE WIRKUNG VON MEDIKAMENTEN FÄLLT OFT DEM STOFFWECHSEL ZUM OPFER. #PERSONALISIERTEMEDIZIN“ username=“steffen_kuhnert“]
Diese Unterschiede in der Medikamentenaufnahme und die Gesamtheit der Bedingungen, denen ein Wirkstoff im menschlichen Körper ausgesetzt ist, wird als Pharmakokinetik bezeichnet und ist auch dafür verantwortlich, ob und in welcher Ausprägung Nebenwirkungen auftreten. Würden Medikamente exakt auf ihre Wirkungsweise abgestimmt und entsprechend verabreicht, könnten mitunter fatale Nebenwirkungen vermieden werden. Immerhin gehen nach Einschätzung des Bremer Gesundheitsforschers Gerd Glaeske jährlich zwischen 16.000 und 25.000 Todesfälle auf Neben- und Wechselwirkungen zurück.
Nebenwirkungen im Praxistest eliminieren: Wer verträgt welche Arznei?
Diese Zahlen zu senken, bedeutet ganz konkret zu erforschen, ob und wie gut ein Patient auf eine Therapie reagiert. Wie aber funktioniert dies in der Praxis?
Ein Test auf sogenannten Biomarkern hilft bei der Zuordnung eines Kranken zu einer Patientengruppe. Es kann sich hierbei um genetische, molekulare oder zelluläre Merkmale, aber auch um Enzyme oder Hormone handeln, an denen ein Vortest durchgeführt wurde.
Diese Abschätzung des Krankheitsrisikos – die sogenannte Strasifizierung – teilt Patienten aufgrund eines Unterscheidungsmerkmals in verschiedene Subgruppen ein: Die, welchen das Medikament verordnet wird auf der einen und die, welche es besser nicht einnehmen sollten auf der anderen Seite. Auf diese Weise kann durch Informationen über den Patienten die Eignung im Einzelfall abgeklärt und eine maßgeschneiderte Therapie entwickelt beziehungsweise angewandt werden.
Eine Symbiose: Die Differenzierung zwischen Patienten- und Krankheitstypen
Diese Form des modernen Vortests bietet noch auf einer zweiten Ebene Gewissheit: Sie ermöglicht auch die Enttarnung und Differenzierung von Krankheiten mit ähnlichen Symptomen. Differenzialdiagnostik heißt diese Methode, mit der man immer genauer spezifizieren kann, mit welchem Subtyp eines Krankheitserregers man es in welcher Ausprägung zu tun hat.
Es geht also nicht nur um eine Patienten-, sondern auch um eine genaue Krankheitscharakterisierung. Die personalisierte Arzneiverordnung und die Differenzierung zwischen unterschiedlichen Krankheitstypen sind sich ergänzende Forschungs- und Therapieansätze.
Krankheiten besser verstehen: Die Biobank-Schatzkammer der Gesundheit
In Biobanken kommt man dem Ziel, gesundheitliche Versorgung auf die individuelle genetische Beschaffenheit einzelner Personen exakt zuzuschneiden, einen gewaltigen Schritt näher. Hier werden die Blut- und Gewebeproben von freiwilligen Patienten untersucht und Erbgut entschlüsselt. In Deutschland existieren inzwischen 116 solcher Biobanken. Am Charité Campus Virchow-Klinikum wird bis April 2016 eine weitere Biobank fertiggestellt sein und mehr als zwei Millionen Proben von Patienten der Charité selbst sowie aus klinischen Studien der BIH-Forschungsprojekte aufnehmen können. Ein geprüftes Datenschutzkonzept soll die Anonymität der Patienten durch eine doppelte Pseudonymisierung gewährleisten und eine Re-Identifizierung unmöglich machen.
Die maßgeschneiderte Pille bietet Chancen für Patienten und Industrie
Maßgeschneiderte Therapien werden auch in Zukunft Hoffnungsträger der Medizin sein und Medikationen weiter individualisieren. Schließlich bieten sie wie kaum ein anderer Forschungszweig der Medizin die Möglichkeit, zentrale Probleme der heutigen Medikamentenentwicklung hinter sich zu lassen. Nicht nur für den Patienten wäre dies ein Gewinn, auch die Industrie könnte hiervon profitieren.
[bctt tweet=“#NEBENWIRKUNGEN? FEHLANZEIGE! INDIVIDUALISIERTE MEDIZIN ALS GEWINN FÜR PATIENT & WIRTSCHAFT.“ username=“steffen_kuhnert“]
Da die Wirksamkeit des Medikaments im Patienten in einem solchen Fall garantiert werden kann, entfallen unerwartete gesundheitliche Rückschläge durch Nebenwirkungen und mangelnde Effizienz durch lange Entwicklungszeiten ebenso wie unnötige Kosten. Wenn der sensible Prozess der Medikation persönlicher wird, kann die individualisierte Gesellschaft mit einer angemessenen Krankheitstherapie endgültig abgerundet werden.